Bild: zeitgut Buchcover
Die Geschichte "Endlich richtig satt essen" steht in dem Buch
Also packten wir es an
Deutschland 1945-1947

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Endlich richtig sattessen

Geschichte von Gertrud Rehbein
Remscheid, Nordrhein-Westfalen 1945–1948 
(gekürzte Fassung)  

Der Krieg war vorbei. Die Gefühle, die mich beherrschten, waren zwiespältig. Für mich bedeutete dieser martialische Schluß Niederlage und Befreiung zugleich. Niederlage, weil ich als Patriotin bestürzt war über die jetzt erzwungene Rolle Deutschlands, die bedingungslose Unterordnung unter die Besatzungsmacht. Befreiung, weil ein brutales Regime, das die ganze Welt beherrschen wollte, zu Ende war.

Langsam wich der ungeheure Druck, Tag und Nacht sprungbereit zu sein, um in den nächsten Luftschutzkeller zu eilen. In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Amerikaner stand ich abends lange am Fenster und sah hinunter auf die Lichter des tiefergelegenen Stadtteils Remscheid-Honsberg. Endlich keine Verdunklung mehr! Und unsere Brücke über die Wupper war heilgeblieben. Noch kurz vor Kriegsende wollten fanatische Parteigenossen die Müngstener Brücke – mit 107 m die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, die Remscheid mit Solingen verbindet – sprengen, um den Besatzern die Überfahrt zu verwehren. Zum Glück hatten besonnene Männer diesen Wahnsinn vereitelt.

Viele junge Männer meiner Altersgruppe waren gefallen. Ein guter Freund von mir hingegen war in russische Gefangenschaft geraten, aus der er erst 1949 entlassen werden sollte.  
Ganz allmählich begannen die Betriebe wieder zu arbeiten, auch die Großhandelsfirma für Werkzeuge und Automobilzubehör Hugo Großbach, bei der ich seit Jahren als Kontoristin angestellt war, nahm ihre Tätigkeit nach kurzer Unterbrechung wieder auf. Sie war während des Krieges „Wehrwirtschaftsbetrieb“ gewesen. Das Sortiment reichte von Schrauben über Luftpumpen bis zu Hebebühnen. Unser Junior-Chef und unsere Mitarbeiter, die während des Krieges eingezogen worden waren, kehrten alle unversehrt zurück. Für uns Frauen, die wir das Schiff während ihrer Abwesenheit erfolgreich gesteuert hatten, bedeutete das, zurück ins zweite Glied zu treten.

Nicht nur Lebensmittel waren jetzt äußerst knapp, sondern Waren jeder Art. Daher war für uns eine gute Kontakt pflege zu Lieferanten außerordentlich wichtig. Einer unserer Mitarbeiter war nur damit befaßt, Lieferanten aufzusuchen und mit Zähigkeit über Warenlieferungen zu verhandeln.
Gearbeitet wurde von 7.30 bis 12 Uhr sowie von 13.30 bis 18 Uhr, samstags von 7.30 bis 12 Uhr, also nahezu 50 Stunden pro Woche. Der Samstag war bei uns Großkampftag, denn dann wurde ein Großteil der Waren zum Versand fertiggemacht, so daß ich oft erst 13 Uhr oder später wegkam. Um zusätzliches Briefporto zu sparen, wurde die Rechnung, die noch geschrieben werden mußte, gleich mit ins Paket gelegt. Mit Handkarren brachten wir die Pakete zur Post.
Unser Betrieb bestand aus zwei Büros, einem größeren Versandraum und einem großen Lager. Da Heizmaterial äußerst knapp war, zogen wir im Winter vom Büro in den Versandraum. Das half aber nur bedingt, denn anfangs mußten wir zum Telefonieren zurück ins bitterkalte Büro. Nach einiger Zeit wurde der mißliche Zustand durch Verlegung des Telefons behoben. Im Januar 1947 war es besonders kalt. Der Ofen im Packraum brauchte lange, bis er etwas Wärme abgab. Wenn wir das Feuer um 8 Uhr morgens entfachten, merkten wir erst gegen 11 Uhr etwas davon. Die Glut über Nacht zu nähren, konnten wir uns aus Mangel an Heizmaterial nicht leisten. Jedem von uns saß die Kälte in den Gliedern. Den Mantel abzulegen wäre sträflicher Leichtsinn gewesen. Die Hände blieben – auch beim Maschineschreiben – behandschuht. Am Nachmittag dann tat der Ofen seine Pflicht, aber ideal war der Zustand trotzdem nicht, denn immerhin wurde im Packraum gleichzeitig gehämmert, gefeilt, Maschine geschrieben und telefoniert.

Ein Teil unserer Kunden kam vom Lande. Wenn sie ihre bestellten Werkzeuge bei uns abholten, brachten sie als Dankeschön oft Kartoffeln mit. Ich hatte dann die ehrenvolle Aufgabe, die Zuwendungen unter den Kollegen gerecht zu verteilen. Die Not machte erfinderisch. Gesäuberte Kartoffelschalen wurden zu Plätzchen verarbeitet, aus Brennesseln Salat gemacht, der gar nicht mal schlecht schmeckte. Auf meinem Weg zur Arbeit mußte ich die steilansteigende Freiherr-vom-Stein-Straße hinaufgehen. Mit meinen 25 Jahren hatte ich Schwierigkeiten, den Anstieg zu bewältigen. Und tatsächlich erhielt ich kurzfristig eine Zusatzration bewilligt, auf der es jetzt ab und zu ein Stückchen Fleisch mehr zum Mittag gab.

Meine sieben Jahre ältere Schwester, die Schneidermeisterin war, trug durch ihre begehrte Arbeit viel zu unserer Zusatzernährung bei. Eine ihrer Kundinnen wohnte in einem kleinen Ort nahe Wermelskirchen, etwa zwölf Kilometer von uns entfernt. Mit einer Milchkanne ausgerüstet, durfte ich mich nach der Arbeit am Samstagnachmittag auf den Weg machen, um zwei, drei Liter Milch bei ihr zu holen. Zuerst eine halbe Stunde mit der Straßenbahn, dann zwanzig Minuten bergab zu Fuß. Ich war froh, wenn meine Kanne gefüllt wurde, das war nicht jedes Mal der Fall. Beim Rückweg steil bergauf wurde mir immer warm, auch im Winter. Von der Milch zauberte meine Mutter unter Hinzufügen eines kräftigen Wassergusses Milchsuppe für fünf Personen. Auch zum Backen blieb noch etwas Milchgemisch übrig.

Da ich sehr hart arbeitete, war mir der Urlaub immer sehr wichtig, 15 Tage gab es. Im Sommer 1947 folgte ich einer Einladung liebenswürdiger Bekannter aus Hamburg-Rahlstedt. Die wochenlange Hitze war für Mensch und Tier eine Qual. Das Wasser in den Badeseen war so warm, daß es keine Erfrischung bot. Unsere Schiffsfahrt nach Cuxhaven bot eine angenehme Abwechslung. Als wir an Land gingen, hörten wir, daß es in einer etwa hundert Meter entfernten Gaststätte ein Fischgericht ohne Abgabe von Lebensmittelmarken geben sollte. Das war doch was! Also schnell hingeeilt. Zu unserer großen Freude war es kein Gerücht gewesen.
Die restlichen Tage meines Urlaubs wollte ich bei Verwandten in der Nähe von Göttingen verbringen. Der Zug über Hannover nach Göttingen war proppenvoll. Eine der Mitreisenden erdreistete sich, vor aller Augen eine Apfelsine zu verspeisen. Ich empfand das als unverschämt, denn wer hatte in dieser Zeit schon Apfelsinen? Eine andere Frau im Abteil erbat sich die Schalen, sie würden so angenehm duften. Wie peinlich.

Mit der Währungsreform im Jahr 1948 hatte die alte, vertraute Reichsmark ausgedient. Jetzt mußten wir uns an die neue Währung, die Deutsche Mark, gewöhnen. Das Geld war wieder stabil, und plötzlich, oh Wunder, ließen einen die Schaufensterauslagen nicht mehr aus dem Staunen kommen. Gehortete Waren fanden den Weg zurück in die Schaufenster. Wenn es wieder genügend zu kaufen gibt, werde ich mich endlich richtig sattessen. – Wer hatte sich das in den mageren Jahren nicht geschworen?  

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