Buchcover
Stöckchen-Hiebe
Kindheit in Deutschland
1914-1933
352 Seiten, viele Abbildungen

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Internationaler Tag der Freundschaft
30. Juli 2022

Bildquelle Klaus Brockerhoff
Klaus Brockerhoff (3. rechts) im Mai 1930 auf der Geburtstagsfeier von seinem Freund Wölfchen (1. links) aus der Geschichte "Auf dem Weg ins Dritte Reich" in dem Buch "Stöckchen-Hiebe.
Freundinnen
von Erika Gaedike aus dem Buch "Stöckchen-Hiebe"

Berlin-Charlottenburg; 1926–1928
In unserem großen Garten ist Ursula immer willkommen. Besonders in der Sommerzeit spielen wir fröhlich und mit viel Phantasie „Kaufmannsladen“. Aus dem Fenster des Gartenhäuschens wird abwechselnd verkauft. Gemüse und Obst dürfen wir hier ernten, das Blumenpflücken ist auch erlaubt. Wir binden die Blumen zu kleinen duftenden Sträußen und bieten sie zum Verkauf an. Die niedlichen Gebinde nimmt Ursula am Abend mit nach Hause. Am Gartentisch wird „gekocht“, die Freundin zum Essen eingeladen. Es schmeckt einfach köstlich! Es gibt geschabte junge Möhren, ausgepalte*) Erbsen, Erdbeeren mit Zucker oder Himbeeren.
*) mundartlich für (Erbsen) aus den Hülsen/Schoten (Palen) lösen.

Zu Weihnachten geht ein heißersehnter Wunsch in Erfüllung: Jede von uns entdeckt auf dem Gabentisch eine große Puppe mit Porzellankopf und Glasaugen, die sich öffnen und schließen. Die eine hat einen Kopf mit einer blonden Pagenfrisur, und die andere hat einen dunkelblonden Haarschopf. War das ein Freude! Ursulas Großmutter und meine Tante Käthe haben die Puppenkinder liebevoll benäht. Von der Unterwäsche bis zum Mantel und passender Mütze, es fehlte nichts! Selbst Lackschuhe und Strümpfe waren vorhanden. Von nun an sind unsere Puppenkinder bei allen Spaziergängen und Spielen mit dabei. Im Sommer nehmen wir sie natürlich mit in den Garten. Sie sitzen bei uns am Tisch und „naschen“ von den Möhren, Erbsen, Kohlrabis, Erdbeeren und Stachelbeeren. Manchmal schenkt uns die alte Tante Lena vom benachbarten Garten eine Handvoll Himbeeren. Hm, die schmecken ganz besonders gut! Tante Lena wohnt mitten in Berlin, in der Köpenicker Straße. Dort gibt es kaum Sträucher und Bäume. Sie ist froh, wenn sie sonntags mit der Dampfbahn nach Charlottenburg fahren und die frische Luft in ihrem Gärtchen genießen kann. Meinem Onkel gehört eine Gärtnerei in der Keplerstraße, und er hat den Verwandten einen Teil des Landes zur Nutzung überlassen. Hier werkeln auch meine Großeltern und meine Eltern. Wir Kinder sind glücklich in unserem Gartenparadies.

Immer wieder denken wir uns neue Spiele aus. Langeweile kommt nie auf. Eines Tages wird ein riesiges Wasserbassin durch ein neues ersetzt. Nun steht das alte wie ein großer Klotz umgedreht an einer freien Stelle. Es hat ausgedient und ist zu nichts mehr nutze. Oder doch? Wir holen eine Leiter und klettern auf das Bassin. Was für eine Aussicht haben wir von hier oben! Und einen neuen Platz zum Spielen haben wir auch. Wir fühlen uns dem Zeppelin, der Berlin überfliegt, ganz nahe. Jetzt haben wir einen eigenen Zeppelin. Die Puppen sind unsere Passagiere. Ursel und ich sind abwechselnd Pilot und Begleitpersonal.

Auch im Winter, wenn endlich Schnee gefallen ist, haben wir unseren Spaß. Aus alten, schmalen Brettern basteln wir uns Skier. Wir wickeln Schnur um Bretter und Stiefel, und los geht es über die verschneiten Wege. Lange Äste sind unsere Skistöcke. Es ist etwas abenteuerlich, denn die Schnüre halten leider nur eine kurze Strecke. Aber unermüdlich knüpfen wir die „Bindungen“ neu zusammen.

Wenn wir meist fröhlich nach Hause kommen, gibt es vielleicht gerade unser Leibgericht: Wickelklöße mit geschmorten Birnen. Ein fester Mehlteig wird ausgerollt und mit Speck belegt. Das Ganze wird dann zusammengerollt und in etwa zehn Zentimeter lange Stücke geschnitten, die in Salzwasser gegart werden.
Bildquelle Erika Gaedike Meine Freundin Ursula (rechts) und ich auf einem Klassenfoto aus dem Jahre 1928. Zusammen besuchten wir die Grundschule in der Pestalozzistraße in Berlin-Charlottenburg.
Im April 1928 ist es soweit: Ursula und ich werden eingeschult. Wir dürfen sogar nebeneinander auf der Schulbank sitzen. Der Lehrer hat wohl gleich erkannt, daß wir unzertrennlich sind. Oder haben unsere Eltern ihm einen Wink gegeben?
Unser Schulweg ist weit und nicht ungefährlich. Wir müssen die damals schon stark befahrene Bismarckstraße in Charlottenburg überqueren. Unsere Mütter begleiten uns abwechselnd bis dorthin. Auf der Verkehrsinsel Wilmersdorfer Straße/Ecke Bismarckstraße steht ein freundlicher Verkehrspolizist, der uns zunickt, dann den weißbehandschuhten Arm ausstreckt und die Fußgänger die Straße überqueren läßt. Eines Tages meint er zu unseren Müttern, wir beide könnten nun den Weg allein gehen, er würde ein Auge auf uns haben. Es klappt sehr gut. Sobald er uns kommen sieht, gibt er den Damm frei, wie die Berliner es nennen. Er beschützt uns wie ein Freund. Mit Knicks und Winken bedanken wir uns jedesmal bei ihm.
Wir gehen beide wirklich gern zur Schule. Besonders mögen wir den Deutschunterricht. Mit unserer „Bärenfibel“ – auf der Titelseite ist der Berliner Bär abgebildet – lernen wir zunächst Buchstaben, dann Silben und schließlich ganze Wörter und kleine Sätze zu lesen.

Die meisten ABC-Schützen haben keine neuen Bücher. Die Eltern können für 50 Pfennige die gebrauchten Fibeln der älteren Schüler kaufen. Da durch die zunehmende Arbeitslosigkeit schon viele Familien in Not geraten sind, können manche Eltern auch diesen Betrag nicht aufbringen. In solchen Situationen hilft der Elternverein, eine Organisation der gegenseitigen Unterstützung.

Der Schulhausmeister kocht jeden Tag viele Kannen Kakao, den er in der großen Pause in unsere emaillierten Blechbecher verteilt, eine leckere und gesunde Frühstücksbeigabe für fünf Pfennige. Auch hierbei sorgt der Elternverein dafür, daß jedes Kind den Kakaotrunk bekommt. Niemand soll im Stich gelassen werden. Es hat sich eingespielt, daß bessergestellte Eltern bedürftige Kinder zum Mittagessen einladen. Diese Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt sind mir unvergeßlich geblieben. Auch mein Vater hat tatkräftig mitgeholfen, solche Unterstützungen zu organisieren.

Mein Bruder hat meine Fibel mit leuchtend rotem, durchscheinendem Papier eingeschlagen. Mit dem Buch unter dem Arm gehe ich oft zu meinem Onkel in die Gärtnerei. Wenn es draußen schon kalt ist, sitzt Tante Elsa in einem Treibhaus und pikiert Alpenveilchen. Sie setzt die winzigen Pflänzchen in größere Holzkästen. Der Geruch der frischen Blumenerde ist sehr angenehm. Im Treibhaus ist es warm und gemütlich. Ich lege ein Kissen auf ein Heizrohr, setze mich darauf und lese vor. Doch es klappt noch nicht so gut. Die Wörter kommen zögernd und stolpernd aus meinem Mund: „Hei – ni, Le – ne“. Tante Elsa zeigt große Geduld und ermuntert mich, den Fibeltext ein zweites und ein drittes Mal zu lesen. Ich fühle mich wohl und geborgen hier.

Wenn meine Mutter mich dann abholt, ist es draußen oft schon dunkel. In der Küche liegen auf der Kochmaschine, wie in Berlin der Kachelherd heißt, rund um das Ofenrohr Äpfel, die brutzeln und einen köstlichen Duft in der Wohnung verbreiten. Langeweile kommt an den langen Winterabenden nie auf, auch wenn wir noch keinen Fernsehapparat kennen. Vater knackt Walnüsse, manchmal liest er mir aus Auerbachs Kinderkalender vor. Oft spielen wir gemeinsam „Schwarzer Peter“ oder „Quartett“.
Am nächsten Morgen machen wir uns, meine Freundin Ursula und ich, dick vermummt – an manchen Tagen haben wir minus 20 Grad –, wieder auf den Weg zur Schule. Wir bedanken uns wie immer an der Kreuzung bei „unserem Schupo“. Im warmen Schulhaus angekommen, sind wir gespannt auf die nächste Unterrichtsstunde.

Seit langer Zeit leben Ursula und ich an weit voneinander entfernten Orten. Doch unsere Freundschaft, die vor mehr als 70 Jahren in dem Charlottenburger Mietshaus, wo wir beide gewohnt haben, begonnen hat, besteht bis heute.

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